Vor genau elf Jahren brauste ein Orkan über die Wälder von Teilen Niederösterreichs, der Steiermark und Kärntens und veränderte deren Antlitz dauerhaft. Über sechs Millionen Festmeter Holz (rund 0,6% vom gesamten Bestand in Österreich) wurden nach Schätzungen geschlagen – zum Vergleich, der Föhnorkan Ende Oktober 2018 forderte in Kärnten eine Million. Forstexperten sprachen von den schwersten Waldschäden seit dem Zweiten Weltkrieg. Zudem waren vorübergehend über 100 000 Haushalte ohne Strom, alleine in der Steiermark waren 750 Stromleitungen unterbrochen, über 4500 Feuerwehren im Einsatz. Versicherungsschäden in der Höhe von 90 Millionen Euro wurden registriert. Während der Sturm selbst mit 20 Verletzten vergleichsweise glimpflich abzog, sorgten die Aufräumungsarbeiten für viele Todesopfer und Schwerverletzte. Entgegen Medienberichten wie im ORF oder in der Ausgabe der „Presse“-Zeitung vom 28. Jänner 2008 handelte es sich weder um ein Sturmtief noch um eines mit dem Namen „Paula“, wie etwa in den Nachrichten und in Feuerwehrkreisen immer wieder zu hören war. Auch zog es nicht von der Ukraine über Polen nach Westen, sondern es handelte sich um eine viel kleinräumigere Störung zwei Tage nach dem Durchzug von PAULA. Das ist in Punkto Ursachenforschung deshalb so wichtig, weil sich dadurch ein Vergleich von PAULA mit Orkan KYRILL (18.01.2007) oder EMMA (01.03.2008) oder auch HERWART (23.10.2017) nicht ziehen lässt, das sind Äpfel und Birnen!
Orkanböen gab es nicht nur auf den Bergen, wie 230 km/h am Klosterwappen (2076m), Schneeberg (NÖ), sondern auch in den Niederungen (Wolfsegg 130 km/h, Mariazell 137 km/h, Graz 119 km/h). Die höchsten Windgeschwindigkeiten traten dabei in an sich stabiler Luftschichtung (Warmfrontdurchgang) auf, in Kombination jedoch mit extrem trockener Luft darunter bis zum Boden. An der Alpensüdseite kam Nordföhn dazu.
Wetterentwicklung vom 25. bis 27. Jänner 2008
Insgesamt spielten im Zeitraum vom 25. bis 27. Jänner 2008 insgesamt 4 Tiefdruckgebiete eine tragende Rolle in der Entwicklung der straffen Westnordwestströmung über Ostmitteleuropa. Sturmtief PAULA überquerte bereits am 25. Jänner Mitteleuropa, ein Tag später folgte ein abgeschlossenes Randtief. In der Nacht auf Sonntag, 27. Jänner, spaltete sich an der Warmfront von Sturmtief QUITTA eine offene Welle (d.h. keine abgeschlossene Kernisobare am Boden) über der Nordsee ab und überquerte tagsüber rasch Deutschland und den Alpenraum. QUITTA selbst verlagerte sich in den Folgetagen weiter zum Nordpolarmeer und beeinflusste Mitteleuropa nicht mehr. Als Gegenspieler fungierte Hoch BERND über Westeuropa mit einem Kerndruck von zeitweise über 1040 hPa.
Als Freitagmittag Sturmtief PAULA über das nördliche Mitteleuropa hinwegzog, dominierte im Alpenraum noch kräftiger Hochdruckeinfluss. Am linken Bildrand über dem Atlantik südlich von Neufundland taucht bereits das nächste Sturmtief auf. Es handelt sich um QUITTA, das sich in der Folge weiter Richtung ISLAND verlagern wird.
Am Samstagabend hat sich PAULA im Kerndruck bereits um 7 hPa abgeschwächt und liegt nun vollständig okkludiert über dem Baltikum. An der Kaltfront von PAULA ist in den Samstagmorgenstunden über der Nordsee ein flaches Randtief entstanden, das unter Verstärkung am Abend über die Ostsee weiter ins südliche Baltikum zieht. Zum Zeitpunkt dieser Analyse besitzt es einen Kerndruck von 991 hPa. Bis Mitternacht erreicht es seinen Höhepunkt mit 989 hPa und schwächt sich nachfolgend ab. Deutlich ist die ausgeprägte Verschärfung des Druckgradients zwischen Baltikum und Tschechien erkennbar. Der Ostalpenraum befindet sich dabei in einer nordwestlichen Anströmung, aber weiterhin unter Hochdruckeinfluss. Sturmtief QUITTA hat sich mit einem Kerndruck von 972 hPa weiter zur Südspitze von Grönland vorgearbeitet. Dabei herrscht ein ausgeprägter Luftmassenunterschied an der seiner Warmfront, die südlich an Island vorbei bis nach Schottland reicht. Temperaturanalysen in 1500m zeigen -10 Grad östlich von Island und +10 Grad im Warmsektor nordwestlich von Irland. Im rot eingekreisten Bereich fächern die Isobaren auseinander, es entsteht eine zunächst schwache Druckdelle, gewöhnlich ein Zeichen für Wellenbildung, der Geburtsort eines Tiefdruckgebiets an der Frontalzone. Im Gegensatz zu PAULA nicht an einer Kaltfront, sondern an einer Warmfront entstanden.
Kurz vor dem Höhepunkt des Orkans über Österreich liegt PAULA weiterhin über dem Baltikum. Der Kerndruck hat sich nur wenig abgeschwächt, die Isobaren rund um das Tief liegen jedoch sehr weit auseinander. Es handelt sich damit schon lange um kein Sturmtief mehr und hat keinerlei Einfluss mehr auf Mitteleuropa. Sturmtief QUITTA hat sich hingegen deutlich verstärkt, der Kerndruck ist innerhalb von 18 Stunden um 14 hPa auf 958 hPa gesunken. Die extrem dichte Isobarendrängung deutet auf schwere Orkanwinde und Sturmflut an der Küste Islands hin. Die im vorherigen Termin angesprochene Druckdelle hat sich im markierten Bereich erkennbar verschärft und reicht von der 1005er-Isobare bis zur 1030er Isobare quer über Deutschland. Der Druckgradient ist – verglichen etwa mit Island – viel schwächer, jedoch gilt: Bei gleichem Isobarenabstand weht im Hoch ein stärkerer Wind als im Tief, denn bei gekrümmten Isobaren wirkt neben der Corioliskraft und Gradientkraft noch die Zentrifugalkraft. Dennoch würde man selbst unter diesen Voraussetzungen wohl keinen besorgniserregenden Sturm über den Alpen erwarten. Die Druckdelle geht auch mit einer Verwellung der Luftmassengrenze einher Es handelt sich weiterhin um eine offene Welle ohne abgeschlossene Kernisobare.
Die zugehörige Höhenwindkarte zeigt, dass Ex-Sturmtief PAULA unter schwachen Höhenwinden in Auflösung begriffen ist, während Sturmtief QUITTA am Rande zweier Jetstreams begünstigt ist. Besagte Welle liegt mit Kern direkt unter dem stärksten Jetstream mit Windgeschwindigkeiten über 170kt (315 km/h). Dies erklärt die zügige Verlagerung der Welle untertags und das relativ kurze Windereignis selbst.
Das sichtbare Satellitenbild (eingefärbt sind hohe Wolken türkis) zeigt die Situation ebenfalls zu Mittag, die Frontreste von PAULA sind kaum noch erkennbar, das Randtief taubt sich über dem Osten aus und die Welle (hier als Randtief Nr. 2 bezeichnet) liegt mit Kern über Polen, die zugehörige Warmfrontbewölkung über dem nördlichen Balkan und Österreich, der kurze kaltaktive Teil über dem Nordosten Deutschlands.
Mit dieser Analyse sollte ein für alle Mal ersichtlich sein, dass das Sturmtief PAULA nichts mit den orkanartigen Winden im Ostalpenraum zu tun hatte.
Die wahre Ursache der Orkanböen
- Verdunstungskälte
Die Spitzenböen traten alle mit einsetzendem Niederschlag aus der Warmfront auf. Sofern es sich nicht um schauerförmigen Niederschlag handelt, wirkt er gewöhnlich dämpfend auf die Windentwicklung. Gewöhnlich beobachtet man mit Warmfrontniederschlag deutlich schwächere Spitzenwinde am Boden und Orkanböen nur auf exponierten Gipfeln.
Ein wesentlicher Faktor ist die Verdunstungskälte. Wenn Niederschlag verdunstet, wird der umgebenden Luft dafür Wärme entzogen. Die kältere, schwerere Luft sinkt ab und erzeugt starke Abwinde. Bei Warmfrontniederschlag ist die Luftschichtung jedoch meist hochreichend gesättigt (100% relative Feuchte), sodass kaum Verdunstungskälte möglich ist.
Nicht so bei diesem Warmfrontdurchgang im Zuge der offenen Welle: Hier machte sich schon am Vortag der kräftige Hochdruckeinfluss bemerkbar. In Hochdruckgebieten sinken die Luftmassen großräumig ab, dabei erwärmt sich die Luft trockenadiabatisch und die Luft wird trockener. Viel trockener.
Über Süddeutschland sorgte die extrem trockene Luft für ein ungewöhnliches Phänomen: Bei Temperaturen um +10°C fiel Schneeregen, teilweise auch Eiskörner.
Linz lag näher an der Warmfront, ist darum feuchter als Stuttgart, auch hier die ausgeprägte Trockenschicht unterhalb 3000m. In 1500m außerdem 55kt Nordwestwind.
In Wien hat sich eine kleine Bodeninversion gebildet, darunter weht Nordwind, darüber Nordwestwind, in rund 2000m Höhe mit 70kt. Die trockene Schicht ist relativ schmal und reicht nur bis 1500m hinauf.
Graz und das Steirische Hügelland waren stärker betroffen, hier kommt zur sehr trockenen Schichtung noch der Einfluss des Nordföhns. Man beachte die extreme Bodeninversion mit -1°C am Boden (347m) und +14°C darüber (480m).
Welche Bedeutung hatte diese trockene Absinkluft aus dem Hochdruckgebiet nun für die beobachteten Spitzenböen?
An fast allen Stationen traten die stärksten Böen kurz vor oder erst während dem Einsetzen des Niederschlags auf, begleitet von sinkender Temperatur und steigender Luftfeuchte. Das spricht klar gegen den gewöhnlichen vertikalen Impulstransport des Höhenwinds zum Boden, denn dann würde die turbulente Durchmischung für eine Temperaturzunahme und Feuchteabnahme sorgen. In Wien war die Trockenschicht geringer ausgeprägt, was die insgesamt geringeren Spitzenböen erklärt.
Das erste Niederschlagsfeld der quasi-stationären Warmfront wurde durch die vorherrschende trockene Absinkluft zerfleddert und zog nach Südosten ab. In den Morgenstunden verstärkten sich die Niederschlagssignale von Norden her und vereinten sich zu einem geschlossenen Band mit zunehmend mäßiger, örtlich auch starker Intensität. Gleichzeitig intensivierten sich die Windspitzen im Bereich der Niederschläge deutlich. Georg Pistotnik (ZAMG) schrieb dazu:
An allen Stationsmeldungen finden sich die gleichen, völlig vom Tagesgang losgelösten Signale: Zuerst Temperaturanstieg, Windzunahme und extreme Abtrocknung (nördlich der Alpen und auf den Bergen kontinuierlich, inneralpin und alpensüdseitig in Form plötzlicher Nordföhndurchbrüche), dann beginnender Temperaturrückgang und Anfeuchtung gleichzeitig mit den stärksten Böen, schließlich Einsetzen des Regens mit deutlicher Abkühlung und einkehrender Ruhe. An manchen Stationen wiederholte sich dieses Muster in abgeschwächter Form zwei oder drei Mal und zeigte, dass auch innerhalb des großen Niederschlagsfeldes gewisse Intensitätsschwankungen auftraten und eine teilweise Regeneration der trockenen „sub-cloud layer“ erlaubten.
In den Regionen nördlich des Alpenhauptkamms traten die stärksten Böen oft nur ein oder zwei Stunden lang auf, ehe der einsetzende ergiebige Regen durch zunehmende Verdunstungskälte in den bodennahen Schichten ein Kaltluftpolster erzeuge, das den Höhenwind vom Boden entkoppelte. Südlich des Alpenhauptkamms traten auch nach einsetzendem Niederschlag weiterhin heftige Böen auf, da der nun dazu kommende Nordföhn das Kaltluftpolster stetig durch turbulente Durchmischung wegerodierte.
Aber sogar an jenen Stationen, die keinen Niederschlag mehr registrierten, war am Sonntagvormittag ein deutlicher Temperaturrückgang und gleichzeitiger Anstieg der Feuchte feststellbar, und bis auf wenige bevorzugte Nordföhnschneisen (wo es noch bis zum Abend stürmisch blieb) waren die stärksten Böen auch hier eng an diese Zeitspanne gekoppelt. Und gerade in diesem Randstreifen des Niederschlagsfeldes – von Lienz über die Gurktaler Alpen und die steirischen Randgebirge bis ins mittlere Burgenland – traten sogar die verheerendsten Schäden auf, da die Kombination aus Verdunstungs- und Lee-Effekten offenbar den vertikalen Impulstransport maximierte.
Weiter südlich im Klagenfurter Becken und der südlichen Steiermark, wo das Niederschlagsfeld schon genügend weit entfernt war, waren die Böen viel schwächer als am unmittelbaren Alpensüdrand, da der Beitrag der Verdunstungskälte hier schon fehlte. Hier handelte es sich also eher um ein „gewöhnliches“ Nordföhnereignis.
Teilweise entwickelten sich extreme Taupunktsdifferenzen mit 39 Grad in Salzburg, 35 Grad auf der Zugspitze und 34 auf dem Feldberg in Schwarzwald, aber auch noch 27,5 Grad auf der Alb.
Flughafen-Meldungen von Salzburg am 27.01.2008:
00:50 UTC: 16006KT 120V210 CAVOK 02/M05
05:50 UTC: 27017G33KT 230V320 CAVOK 14/M25 (entspricht 5% relativer Feuchte)
10:20 UTC: 24016G26KT 190V290 9999 -RA FEW017 SCT035 BKN050 08/M01
Man beachte die großen Feuchtesprünge und Variabilität des Windes gleichzeitig.
Schlussfolgerung: Ein Großteil der Spitzenböen wurde durch Verdunstungskälte verursacht. Niederschlag fiel aus der kompakten Aufgleitbewölkung oberhalb von rund 2500 bis 3000m in eine ungewöhnlich Luftschicht darunter, die bis zum Boden reichte. Das Phänomen ähnelt dem Sting Jet, auch wenn hier andere Prozesse beteiligt sind mit absinkender trockener Luft aus größeren Höhen, die Wolkenluft verdunstet. Das Ergebnis ist jedoch sehr ähnlich: Verdunstungskälte bewirkt Abwärtsbeschleunigungen und Starkwindereignisse am Boden.
2. Starkwindbänder in der Höhe
Die 6-stündige Prognose des amerikanischen Wettermodells für 700 hPa (entspricht rund 3000m) um 13 Uhr MEZ zeigt ein breites Starkwindband in der Höhe der höchsten Ostalpengipfel. Verbreitet werden über 60kt ereicht, an der Alpensüdseite lokal sogar über 90kt. Der Impulstransport durch die Verdunstungskälte hat diese extrem hohen Werte teilweise bis zum Boden durchgereicht.
3. Nordföhn
Durch die intensive Anströmung und Effekte der Verdunstungskälte wurde im Lee des Alpenhauptkamms eine markante Erwärmung erreicht. Die Höchstwerte lagen bei 12-17°C, damit wurde die Luftmasse in 3000m vollständig herabgemischt. . Jedoch wurden die Höchstwerte vor den Terminen der Spitzenböen beobachtet, mit den Spitzenböen sanken die Temperaturen deutlich ab.
Schlussfolgerung:
Der Nordföhn war auch im Süden nicht die alleinige Ursache für die Spitzenböen an der Alpensüdseite. Er erodierte aber die bodennahe Kaltluft und regenerierte die trockene Schicht unterhalb der Wolkengrenze. Dadurch konnte der hineinfallende Niederschlag ständig weitere Verdunstungskälte erzeugen. Wenn der Föhn es schaffte, das Kaltluftpolster am Boden komplett wegzumischen, wehte Orkan. Im Raum Graz wurden beispielsweise in den Vormittagstunden aus einem Stadtteil Windstille oder schwache Winde gemeldet, während andernorts schwere Sturmböen herrschten.
Das Satellitenbild der Uni Bern zeigt für den Sonntag morgen eine scharfe Wolkenkante entlang des Alpenhauptkamms bzw. knapp südlich davon. Nördlich dominieren hohe und mittelhohe Wolken mit Niederschlägen, die jedoch in der extrem trockenen Luft in tieferen Schichten zunächst größtenteils verdunsteten.
Auf der Alpensüdseite hingegen kann sich in der Föhnluft teilweise die Sonne durchsetzen. Im Süden der Schweiz wurden Höchstwerte bis zu 21°C (Lugano) und darüber gemessen. Über Südostkärnten erzeugten die durch den Föhn hervorgerufenen Leewellen sogenannte „stehende Rotoren“, die sich als parallel verlaufende Wolkenbänder äußerten – im Lee des deutschen Erzgebirges noch viel markanter ausgeprägt:
Zusammenfassung:
Eine seltene Kombination aus Starkwindband in der Höhe, markantes Absinken unter vorherigem Hochdruckeinfluss, Warmfrontniederschlag mit Verdunstungskälte und Nordföhn hat dieses schadensbringende Sturmereignis ausgelöst. Im Gegensatz zu anderen Winterstürmen besaß das Tief weder einen abgeschlossenen Tiefdruckkern noch machte sich eine markante Kaltfront mit Schauern und Gewittern bemerkbar. Das medial als PAULA bezeichnete Sturmtief verweilte zum Zeitpunkt der Spitzenböen bereits über dem Baltikum bzw. Russland.